Literaturzeitschrift Zwischenwelt   
Juni 2025

Buchbesprechung von Hedwig Wingler

Sandra Pioro: ---"Nie mehr still. Die Reise zu mir selbst. Eine jüdische Geschichte.“

 edition keiper, Graz 2025. 310 Seiten.

Der Titel erklärt sich beim Lesen: Sandra ist zu lange still gewesen, ohne Fragen und daher ohne Antworten. Die 1968 – in Stuttgart - geborene Verfasserin des Buches schaut auf ihr Leben, ihre Herkunft und findet in intensiver Suche vieles; es werden Erinnerungen geweckt, was die eigene Vergangenheit betrifft. Es werden Quellen gefunden auf der Suche nach Herkunft und Zukunft ihres Vaters. Der Dreh- und Angelpunkt: Das vierjährige Mädchen verliert den Vater, der die Familie – seine Frau, Sandra und ihre zwei Brüder – verlässt. Warum, wohin, was war vorher, was kommt noch.

Dreißig Abschnitte schildern, wie das Stillhalten besiegt wird; die Geschichte der Familie und vor allem die des Vaters wird erzählt, beleuchtet, rekonstruiert? – jedenfalls für die Autorin greifbar gemacht. Es ist ihr erstes Buch, sprachlich-stilistisch und im Aufbau hervorragend gelungen.

Das Schweigen ist ihr in der Kindheit beigebracht worden. „Die Neugierde duelliert sich mit der Angst. Ich zögere und hadere mit dem Fremden. Letztendlich gewinnt jedoch die Sehnsucht, die sich in meinem Inneren breitmacht und nach den Erinnerungen und Wahrheiten sucht, die allzu lange wie auf einem Meeresgrund verschollen schienen.“ (S. 21) Die Vergangenheit muss auftauchen, aus der Tiefe des Wassers, des Meeres des Vergessens; diese Metapher des Tauchens, des Tauchganges durchzieht das Buch, sie wird als Methode verwendet und so wird aus tagebuchartigen Notizen ein Stück Literatur, mitsamt den Inhalten, die mit den Verbrechen der NS-Zeit gefüllt sind.

Sandras Familie gehörte in Stuttgart zu einer konservativen jüdischen Gemeinde, die Synagoge wurde besucht, jüdische Feste wurden gefeiert. Die Mutter hat die Zeit der Verfolgung glücklich überstanden. Doch der aus der polnischen Stadt Sosnowiec stammende Vater Samuel Pioro, 1926 geboren, war ein Überlebender aus Auschwitz. Noch kurz vor der Befreiung dieses Vernichtungs-KZs durch die Sowjetarmee am 27. Januar 1945 wurde der Vater auf den Todesmarsch in das KZ Buchenwald geschickt. Dieses Schicksal teilte auch Jossele, sein polnischer Freund seit Auschwitz. Sie kamen beide dann auf Umwegen nach Stuttgart. Auch nachdem der Vater die kleine Sandra und die Familie verlassen hatte, blieb Jossele im Nebenhaus der Familie wohnen als Nachbar, bis er vor einigen Jahren starb. Er hatte dem Mädchen erzählt, dass er das KZ nur mit der Hilfe Samuels überstand.

Dass Sandra Jüdin war, war zunächst kein Thema unter den Mitschülern, allerdings wurde sie aus dem christlichen Religionsunterricht ausgeschlossen. Auch sollte sie am Geschichtsunterricht nicht teilnehmen, wenn die Zeit des Nationalsozialismus durchgenommen wurde. Zwei antisemitische Erlebnisse erschüttern Sandra – als Gymnasiastin; doch es dauert Jahrzehnte, bis sie tatsächlich anfängt zu fragen und zu forschen. 

Das „Tiefseetauchen“ soll helfen. „Ich bin nervös und spüre, dass mein Puls sich erhöht. Das Meer ist wieder einmal unruhig und ich tauche durch gefährliche Gewässer. . .“ (S. 95) Die Erzählung verläuft nicht chronologisch. Sie setzt ein mit dem Entschluss der Autorin, nachzuforschen. Da lebt sie schon in Graz, wohin sie auf Umwegen vor einiger Zeit gekommen ist. In Wien hatte sie Schauspiel studiert. Als Schauspielerin hat sie viele Jahre an Theatern vor allem in Stuttgart, Wien und Graz gearbeitet, später auch als Modedesignerin. Diese Fähigkeiten nutzte sie in Folge auch dazu, für den Verein „Rote Nasen“ Österreich zu arbeiten, wo sie heute eine leitende Funktion in der Kunst innehat.

Viele der Abschnitte gestaltet sie so, dass durch das „Tauchen ins Vergangene“ und „Auftauchen in die Gegenwart“ wie aus einem Traum Schritt für Schritt schlüssig das Verschüttete „hervorkommt“.

Es ist hier nicht möglich, die Details dessen wiederzugeben, was Sandra über den Weg des Vaters nach der Befreiung erfährt. Eine Quelle ist jedoch zu erwähnen: Arolsen Archives in Hessen, das umfangreichste Archiv der NS-Verfolgten. 

Demnach kam Samuel Pioro, wie sein Freund Jossele, von Auschwitz über das KZ Buchenwald zunächst im Juli 1945 nach Innsbruck- Reichenau. Die US-Amerikaner nannten die Überlebenden „Displaced Persons“. „Die Deutschen nannten sie später: heimatlose Ausländer“ (S. 170) Von Reichenau ging es für beide Männer bald nach Bayern, nach Föhrenwald in ein Lager, das als „jüdisches Schtetl“ für DPs zwölf Jahre lang eine Zuflucht blieb. Der Ort heißt heute Waldram in Wolfratshausen bei München. Nach etwa fünf Jahren zog der Vater nach Stuttgart, gründete die Familie. – 

Was ihn betrifft, so galt er seit dem Jahr 1991 als „verschwunden“, verschollen. Es werden Einzelheiten seiner Tätigkeit, seiner „Geschäfte“, aus verschiedenen Richtungen bekannt. Samuel war mit dem Handel und auch mit dem Schmuggel von Diamanten befasst; dies war wohl der Grund für seine Reisen in viele Länder Europas und nach Brasilien. Wie die Tochter darauf reagiert? Sie will verstehen, als ihr der vier Jahre ältere Bruder Einzelheiten mitteilt, über die es sogar ein Buch von 1975 gibt. Ist es schmerzhaft für sie, oder soll sie verständnisvoll sein? Sie wertet nicht.

Die letzte Station auf der Suche nach der Vergangenheit führt nach Polen im Jahr 2024. „Tief unten im Meer schwimme ich auf der letzten Etappe meinem Ziel entgegen. . .“ (S. 270) Es gelingt ein Kontakt mit einem polnischen Helfer, der Sandra zunächst nach Sosnowiec, in die Heimatstadt des Vaters, führt. Dort gibt es keine Verwandten, die überlebt hätten. Durch Arolsen Archives hatte sie bereits auf ihrer Suche erfahren, dass ein Großcousin überlebt hatte und nach Chicago ausgewandert war. 

Sandra durchwandert die Stadt und gelangt zum jüdischen Friedhof, auf dem ihr Großvater Dawid, der „Kolonialwarenhändler“, bestattet war; einen Grabstein findet sie nicht. Dann fährt sie nach Auschwitz-Birkenau, es ist eine Zugstunde entfernt. - Wie die Tochter ihre Reaktion auf den Leidensweg des Vaters beschreibt, ist bewegend – sie versachlicht die Darstellung bewundernswert, als schaue sie von außen auf die schrecklichen Umstände. Es wird in dieser Besprechung darauf verzichtet, hier ins Detail der Tatsachen und der Gefühle zu gehen, mit denen die Autorin konfrontiert wird.   

Vor einigen Jahren, so am Ende ihrer Geschichte, legte sie die deutsche Staatsbürgerschaft ab und wurde Österreicherin. Dass sie bis etwa zum achten Lebensjahr als „staatenlos“ galt nach dem Vater, erwähnt sie beiläufig.

Mit dem Buch von Sandra Pioro liefert der Grazer Verlag edition keiper nicht nur eine besondere Familiengeschichte, sondern auch ein wichtiges literarisches Dokument unserer Zeit. 

                                                                                                                 Hedwig Wingler

 

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