FAZIT MAGAZIN 

Ausgabe Juli/August 2025

 

Fazitbegegnungen

Volker Schögler trifft auf Sandra Pioro

Die Seelentaucherin 

 

Sandra Pioro hat sich auf eine Reise zu sich selbst begeben. Aus der Reise wurde nach 22 Monaten der Schreibarbeit und Selbstreflexion, auf Tauchgängen in die Tiefen ihrer Seele und ihrer Träume, aber auch physisch auf den Spuren ihrer Vorfahren im In- und Ausland sowie in internationalen Suchdiensten und Archiven gegen das Vergessen ein Buch: „Nie mehr still“, Untertitel: „Die Reise zu mir selbst. Eine jüdische Geschichte.“ Es ist eine Aufarbeitung der Traumata der sogenannten Kriegsenkel, jener Generation, die den Krieg, den Nationalsozialismus, den Holocaust, die Angst und das Grauen nicht selbst erlebt hat. Die aber unter diffusen Symptomen, vor allem Ängsten leidet, deren Ausgang die neurowissenschaftliche Forschung in der Epigenetik, der generationsübergreifenden Vererbung von Traumata, verortet – was sowohl für die Täter- wie auch die Opferseite gilt. Auch das bleierne Schweigen über jene Zeit betrifft beide Seiten, wenn auch oft in unterschiedlicher Ausformung und weil Verfolgung zumindest im Sinne von Ausgrenzung in Gestalt von Antisemitismus noch immer stattfindet. Wie auch die Angst davor. Diese Erfahrung musste die Autorin bei einigen Buchhandlungen machen ,die das Buch zwar loben, sich aber nicht getrauen, weitergehende Promotion zu machen. Erschütternd ist auch ihre Schilderung im Buch, wie die Auslagenscheiben ihres Ateliers in einem durchwegs vornehmen Grazer Stadtviertel mit Hakenkreuzen beschmiert wurden und ein zufällig vorbeikommendes Ehepaar spontan die Reinigungsarbeit übernommen hat. 

In ihrem schonungslos autobiographischen Roman, erkennt Sandra Pioro, dass sie ihre Vergangenheit beleuchten und jene Fragen stellen muss, die in ihrer Familie bislang vermieden wurden. So begibt sie sich auf Spurensuche, um die vielen offenen Fragen nach ihrem Vater zu klären, der als Jugendlicher mehrere Konzentrationslager überlebt hat und 1991 spurlos verschwunden ist. Die Begegnung mit ihrer jüdischen Geschichte und den Traumata ihrer Eltern und Großeltern lässt sie ihre Identität finden: als Tochter eines Ausschwitz-Überlebenden, als Künstlerin und als jüdische Frau. Der Abgrund des familiären Schweigens über die Vergangenheit seit ihrer Kindheit in Stuttgart formte auch sie selbst zu einer schweigenden Person, zumal wenn sie sich mit Antisemitismus konfrontiert sah. Sich niemandem anzuvertrauen verstärkte ihr Gefühl, weniger wert und nicht erwünscht zu sein. In ihrem Buch trifft Sandra Pioro einen zugleich stimmungsvollen wie spannenden Ton, der auf erschreckend schlüssige Weise vergangene und gegenwärtige Sachverhalte und Tatbestände widerspiegelt. Fantasiegebäude, unglaubliche Träume und merkwürdige Zufälle scheinen nur solange zweifelhaft, bis sie selbst schreibt: „Würde ich eine fiktive Geschichte schreiben, hätte ich es anders gestrickt, denn das käme mir zu glatt vor, um es glaubwürdig wirken zu lassen. Das Leben hat offensichtlich seine eigenen Gesetze und schreibt sich seinen eigenen Roman.“ Sandra Pioro ist Absolventin des ehemaligen Konservatoriums der Stadt Wien (Musikalisches Unterhaltungstheater, Gesang, Musical), debütierte  im Wiener„Ronacher“, war zuletzt bis zum Jahr 2000 Ensemblemitglied bei den Vereinigten Bühnen Graz und betrieb anschließend ein eigenes Modelabel. Heute ist sie bei den „Roten Nasen“ Leiterin des Coaching-Teams und der Abteilung Kostüm und Ausstattung. Mit der Veröffentlichung der eigenen Geschichte hat sie das Schweigen durch das Wort ersetzt, „um letztendlich diejenige zu sein, die ich eigentlich geworden wäre.“ Was nach dem Buch für sie anders sei? „Ich war früher die Suchende und habe jetzt diese Lücke in meiner Geschichte geschlossen, nun habe ich so eine Ruhe gekriegt, eine Art innere Stärke und Selbstbewußtsein.“ Das darf auch für die Autorin Sandra Pioro gelten, die wunderbar mit der geschriebenen Sprache umzugehen versteht, was eine Fortsetzung geradezu einfordert. 

 

 

 

 

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